senf zum sonntag

Leute, wir müssen reden

Der Wahn rund um die Bundespräsidentenwahl erreicht heute seinen Höhepunkt. Grün oder blau? Der Kornblumen-Gottseibeiuns oder der Freimaurer-Professor? So viele Meinungen, Wahlempfehlungen und leider auch Streitereien gab es noch bei keiner Wahl in der zweiten Republik. Und Facebook sei Dank kann jeder, der sich dazu berufen fühlt, seine Meinung auch kund tun.

Von der einstigen Politikverdrossenheit ist nur noch wenig zu spüren – aber ob die neue Politikleidenschaft besser ist? Plötzlich hat jeder eine Meinung und vertritt diese oft bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus. Diskussion kann man das nicht mehr nennen. Die braucht nämlich den Austausch von Meinungen, nicht nur das Herausschreien der eigenen.

Stattdessen werden Facebook-Freundeslisten „gesäubert“, Beschimpfungen fliegen so tief wie sonst nur die Schwalben vor einem Gewitter und selbst Drohungen gegen das andere Lager gehören fast schon zur Tagesordnung. Traurig ist das!

Alle strohdumm

Einer wird heute das Rennen machen, so viel steht fest. Dessen „Lager“ wird morgen feiern, jubeln und „wir haben es euch ja gesagt“ schreien. Das andere Lager wird sich furchtbar darüber aufregen, die Wahl und ihre Rechtmäßigkeit anzweifeln und behaupten, dass alle, die dem Sieger ihre Stimme gegeben haben, sowieso strohdumm sind und Österreich an den Abgrund führen. Für diese Prognose braucht es kein Meinungsforschungsinstitut – es wird so sein, egal ob blau oder grün vorn ist.

Und dann? Werden wir in Zukunft jeden unserer Freunde und Bekannten daraufhin analysieren, wo er oder sie das Kreuzerl gemacht hat? „Falschfarbigen“ die Freundschaft aufkündigen? Uns auf neue Bekanntschaften gar nicht erst einlassen, wenn sie dem anderen „Lager“ angehören? Werden wir unsere Verwandten schneiden, wenn sie nicht unser Weltbild teilen? Stattdessen alle darauf abchecken, obsie eh wie wir gewählt haben? Ich befürchte, dass viele so handeln werden. Dann ist das erreicht, was in den großen Medien bereits voller Besorgnis (haha) vorweggenommen wurde: Die Spaltung der Gesellschaft.

Ich weigere mich, da mitzuspielen. Ich weigere mich, ein Kreuzerl auf einem Stimmzettel wichtiger zu nehmen, als den Menschen, der es gemacht hat. Sympathie entsteht, wenn Leute miteinander reden und feststellen, dass sie etwas verbindet und das sie etwas anderes doch trennt. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der in allem der gleichen Meinung wäre wie ich. Das wär auch schön fad, denn echte Diskussionen (nämlich solche ohne Beschimpfungen und Abwertungen) sind nur dann möglich, wenn es zwei Standpunkte gibt, und wenn jeder den seinen zwar mit Leidenschaft, aber dennoch mit Interesse für die Worte seines Gegenübers vertritt.

Wir müssen uns weder gegenseitig bekehren oder bekehren lassen noch hochmütig oder verbittert unsere Wahl verteidigen. Wir müssen nur miteinander reden. Auf Augenhöhe, mit Interesse am Gegenüber und der Bereitschaft, unvoreingenommen zuzuhören. Und zwar nicht nur über Politik, sondern über die wirklich wichtigen Dinge. Tun wir das nicht, dann ist es wirklich egal, wer diese Wahl gewinnt. Dann haben wir alle verloren.