robert adler

Schnittwoch: Nichts fasziniert den Menschen so sehr wie der Mensch

Es ist ein verregneter Nachmittag irgendwann im Herbst. Ich sitze in einem Café bei einer heißen Tasse Schokolade und einem Croissant und sehe gelangweilt aus dem Fenster auf die Straße. Und auf ihr Menschen, überall Menschen wohin man auch blickt. Einige rennen hastig, andere schlendern langsam, wieder andere stehen einfach nur herum.

Ich hasse es, beobachtet zu werden. Aber ich liebe es, diese Leute zu beobachten. Es sind so groteske Wesen, denke ich mir, obgleich es merkwürdig klingt, wo ich doch selbst einer von ihnen bin. Einige stechen besonders aus der Menge hervor. Etwa die „malerische Ruine“ einer alten Dame, die mit ihrem kleinen Pekinesen Gassi geht. „Was ist sie wohl für eine Art von Mensch?“, denke ich mir.

Hochmütig sieht sie aus, aber auch kraftvoll, voller Leben. Langes, silberweißes Haar umwallt ihren Körper. Es ist als ob jede ihrer Falten eine Geschichte erzählen würde. Natürlich würde die allgemeine Mehrheit sagen, diese Dame wäre hässlich. Weil Oberflächlichkeit leider Gang und Gebe ist in dieser Gesellschaft, ebenso wie Vorurteile und Klischees. Für mich ist sie schön, wie ein uralter Baum, der imposant im Walde steht. Es gibt keine hässlichen Menschen, nur schlechte Seelen – so mein spontaner Gedanke.

Mein Blick schweift weiter. Da ist ein schwarzer, junger Bettler der am Boden sitzt. Die Menschen gehen an ihm vorbei. Einer nach den anderen. Sie ignorieren ihn, bewusst wie es scheint. Es ist als ob er unsichtbar wäre. Seine Augen sind in Melancholie gehüllt, sein sentimentaler Blick weit in die Ferne gerichtet, als würde er weit über den Horizont hinaus blicken können. Was er wohl für ein Leben hatte bis jetzt? Kein besonders gutes, wie es scheint. Oder vielleicht erinnert er sich zurück, an bessere Zeiten? Seine Kindheit vielleicht?

Ich blicke weiter. „Wozu rennen diese Menschen alle überhaupt so?“, frage ich mich dann und muss innerlich lachen. Sie scheinen unter unendlichem Druck zu stehen, als würde ihr Leben davon abhängen. Dabei ist es doch nur der Einkaufsbummel, den sie so dringend fortsetzen müssen, oder öffentliche Verkehrsmittel, die sie noch rechtzeitig erwischen wollen, obgleich die nächste eh schon in zwei Minuten kommt… „Warum kämpfen sie nur so mit sich selbst?“, frage ich mich. Wozu dieser unnötige Stress? Das Leben ist doch viel zu kurz, man sollte wirklich jeden einzelnen Augenblick genießen! Jeden Tag so leben, als wäre er der allerletzte. Denn schließlich, früher oder später, wird es der allerletzte gewesen sein…

Ich nippe kurz an meinem Kakao, ehe ich weiter in Gedanken schweife und heimlich die „Meute“ da draußen beobachte. Alle sehen sie so unterschiedlich aus. Ein Mann ist klein und dick, der nächste groß und dünn, wieder ein anderer groß und dick, und der nächste wiederum klein und dünn. Drei junge Mädchen gehen kichernd vorbei, die eine hat Augen in der Farbe des Himmels und Haare in der Farbe der Sonne; die zweite Haare so rot wie Hibiskus und Augen in der Farbe eines Waldteichs; die dritte rabenschwarze Augen und Haare, und ein Gesicht, so weiß wie eine Jasminblüte.

Einige Menschen sehen glücklich aus, andere traurig, wieder andere wütend. Manche wirken sogar gefährlich, und wieder andere scheinen selbst total in Gedanken verloren zu sein.

Irgendwie scheinen, obgleich sie so unterschiedlich sind, alle ähnliche Laster zu haben, ähnliche Sorgen und Probleme, und es sind wahrscheinlich auch gar nicht mal so unterschiedliche Dinge, die sie glücklich machen. Warum schauen so viele nur so ernst? Was spricht eigentlich dagegen, einmal lächelnd durch die Gassen zu stolzieren? Nun gut, das wäre vielleicht ungewöhnlich, aber einmal eine Abwechslung.

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“. Oh Schreck! Das ist die Kellnerin die auf einmal vor mir steht. „Nein, danke“, sage ich. Sie hat mich völlig vergessen lassen, worüber ich gerade nachdenken wollte, ich war gerade so tief versunken…

Macht nichts, denke ich mir, und gucke wieder neugierig und träumerisch hinaus.

Jetzt kommt eine ältere, auffällig stark geschminkte, sehr exzentrisch wirkende Dame daher. Oder nein, doch nicht – es ist ein Mann! Die Leute um ihn herum starren ihn alle an. Teils entsetzt, teils belustigt. Er tut mir leid, denn es scheint mir so, als würde er bei den meisten mit seinem Auftreten auf Unverständnis stoßen. Aber ihm scheint das nicht zu kümmern. Er ignoriert die Blicke einfach. Er bleibt ganz er selbst, und mit einem schier unendlichen Selbstbewusstsein stöckelt er auf hohen Hacken weiter, während sich die Passanten, die vorüber gehen, nach ihm umdrehen.

Ich könnte ewig hier sitzen bleiben und weiter „starren“, kommt mir in den Sinn. Es ist viel besser als im Büro oder in der Schule zu sitzen und sich darüber Gedanken zu machen, wie man richtig eine Personalverrechnung kalkuliert. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, es hilft einfach nichts – ich muss jetzt los, habe auch noch Sachen zu erledigen. Ich zahle schnell und düse hinaus aus dem Kaffeehaus, renne über jene Straße, der ich vorher so viel Beachtung schenkte. Ich blicke auf die Uhr und merke dass ich mich beeilen muss, laufe noch schneller. Die vorbeigehenden Leute starren mich alle an, mit einem Blick, der erahnen lässt, das sie sich denken: „Warum rennt den der Typ denn nur so stürmisch?“

Und was mache ich? Ich lächle, muss schon fast über mich selbst lachen. Ob mich jemand jetzt wohl aus irgendeinem Fenster beobachtet, und sich über mich und darüber Gedanken macht, warum ich wohl so renne? Wer weiß, nichts ist gewiss auf dieser Welt. 😉